Wissenschaftler der Universität Paderborn werden mit Forschungspreis ausgezeichnet
Epilepsie ist eine neurologische Erkrankung, von der weltweit mehr als 50 Millionen Menschen betroffen sind. Zu den Hauptsymptomen gehören schwere Anfälle, die häufig mit Bewusstlosigkeit und Verletzungen einhergehen – in einigen Fällen sogar mit tödlichem Ausgang. Zwar gibt es Notfallmedikamente und Sicherheitsvorkehrungen, deren Anwendung wird durch die Unvorhersehbarkeit der Anfälle jedoch massiv erschwert. Wissenschaftler der Universität Paderborn arbeiten deshalb an einem neuartigen System für ein am Handgelenk getragenes Gerät, ein sogenanntes Wearable, das Prognosen in Echtzeit abgibt. Dafür wurden sie nun mit dem Forschungspreis der Universität ausgezeichnet.
Aktuelle Methoden bringen Nachteile mit sich
„Die Ungewissheit, wann es zum nächsten Anfall kommt, gehört zu den herausforderndsten Aspekten der Krankheit, über die Menschen mit Epilepsie und deren Betreuer*innen berichten“, erklärt Prof. Dr. Dr. Claus Reinsberger, Neurologe und Leiter des sportmedizinischen Instituts an der Universität Paderborn. Ein wirksames Vorhersagesystem in Echtzeit könnte Leben retten, indem Behandlungsstrategien verbessert und Anfälle in Zukunft sogar verhindert werden. Zwar gibt es bereits wissenschaftliche Arbeiten zu verschiedenen Methoden, allerdings gehen diese in der Regel mit deutlichen Beeinträchtigungen einher: „Aktuelle Systeme basieren zumeist auf der invasiven Elektroenzephalographie (EEG), bei der kleine Geräte in die Gehirne der Patient*innen implantiert werden. Laut aktuellen Studien leiden viele Betroffene unter starken Nebenwirkungen. Das macht die EEG für eine breite Anwendung in der Allgemeinbevölkerung, insbesondere bei Kindern, eher ungeeignet“, so Reinsberger.
Bessere Lebensqualität von Millionen Menschen durch neuen Ansatz
Kostengünstige, einfach zu bedienende und tragbare Geräte, die verschiedene Daten des autonomen Nervensystems (ANS) wie z. B. Herzfrequenz, Schweißaktivität und Hauttemperatur gleichzeitig erfassen, sind vielversprechend und könnten die Lebensqualität von Millionen Menschen verbessern. „Die Anfallsvorhersage mithilfe von Wearables ist ein aufstrebendes Gebiet, für das es erst kürzlich wissenschaftliche Bestätigungen der Umsetzbarkeit gab. Diese Techniken sind aber auf die Offline-Verarbeitung beschränkt. Es gibt also derzeit keine Lösung, die Anfälle in Echtzeit vorhersagen kann und damit das Potenzial hat, eine angemessene medizinische Behandlung einzuleiten“, sagt Dr. Tanuj Hasija vom Institut für Elektrotechnik und Informationstechnik, der das Vorhaben zusammen mit Reinsberger umsetzt.
Das wollen die Paderborner Wissenschaftler ändern. Um ihr Ziel zu erreichen, entwickeln sie einen Algorithmus und einen Plattform-Prototyp. Dabei werden Live-Daten vom Wearable erfasst, durch den Algorithmus verarbeitet und münden im Falle einer erhöhten Anfallswahrscheinlichkeit in einen Alarm. Das Boston Children's Hospital an der Harvard Medical School unterstützt das Projekt.
Einsatz von multimodalem Lernen mit erklärbarer künstlicher Intelligenz
Eine große Hürde besteht darin, Biomarker zu finden, die zwischen der sogenannten interiktalen und der präiktalen Periode (nicht kurz bzw. kurz vor einem Anfall) unterscheiden. „Derzeitige Verfahren zur Offline-Anfallsprognose stützen sich entweder auf präiktale Biomarker aus einer einzigen Funktion des autonomen Nervensystems oder verwenden vollständig datengesteuerte Ansätze, also quasi hochkomplexe Blackboxen ohne interpretierbare Erklärungen“, so Hasija. Die Vorarbeiten der Wissenschaftler haben jedoch gezeigt, dass präiktale Veränderungen an gleich mehrere ANS-Funktionen gekoppelt sind. Die kombinierten Werte könnten also einen zuverlässigen Biomarker für die Anfallsprognose hervorbringen.
Um die Funktionsweise des Algorithmus für die Endanwender*innen und ihre Behandler*innen verständlich zu machen, verwenden die Paderborner Forscher erklärbare künstliche Intelligenz. Der Vorhersagealgorithmus soll aus unterschiedlichen medizinischen Modalitäten lernen und außerdem Erklärungen für seine Vorhersagen liefern. Er entscheidet zum Beispiel über eine hohe Anfallswahrscheinlichkeit aufgrund einer ungewöhnlichen Herzfrequenz in Kombination mit einer hohen Schweißaktivität, die nicht mit Faktoren wie körperlicher Aktivität o. Ä. zusammenhängt.
Herausforderungen gibt es im Zusammenhang mit der Vielfalt der ANS-Signale bei unterschiedlichen Anfallstypen und Personen. „Trotzdem würde eine erfolgreiche Echtzeit-Anfallsvorhersage selbst für einen Bruchteil der Patient*innen zu einem Paradigmenwechsel in der Epilepsiebehandlung führen. Darüber hinaus ist die Kombination aus automatisiertem Lernen auf Basis verschiedener Datenquellen und erklärbarer künstlicher Intelligenz ein einzigartiger Ansatz, der das Potenzial für eine vertrauenswürdige Technik und ein besseres Verständnis der anfallsbedingten Veränderungen bietet“, sind sich die beiden Wissenschaftler einig. Ihre Ergebnisse wollen sie öffentlich zugänglich zu machen, um u. a. künftige Studien zu unterstützen.